Eine Weide voll schwarzer Schafe
Seit 2011 produziert der Streaming-Anbieter Netflix eigene Serien und kooperierte für die erste 2015er Veröffentlichung sogar mit Sony Pictures Television. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen. In atmosphärischer Unaufgeregtheit wird dem Zuschauer ein Familiendrama dargelegt, das mit seinen größtenteils herkömmlichen Elementen fast jedem nahegeht – und die Abgründe und Ängste jeder Gemeinschaft widerspiegelt.
Der verlorene Sohn ist ein gern gesehenes Motiv in Filmen und Serien. Eine Familie entzweit sich durch einen nicht zu überwindenden Zwist, findet aber nach einer Zeit der Trennung wieder zueinander. Doch woraus soll man eine düstere Serie stricken, wenn sich alle wieder versöhnen?
Dannys Schicksal hat daher anderes für ihn vorgesehen. Als schwarzes Schaf der Familie kehrt er zur 45-Jahr-Feier des elterlichen Hotels auf die Florida Keys zurück. Doch während seine Mutter sich freut, wünscht sein Vater sich nichts mehr, als ihn schnell wieder loszuwerden. Und auch die Geschwister blicken dem älteren Bruder mit gemischten Gefühlen entgegen. Als er dann Kontakt zu seinem alten, leider auch kriminellen Kumpel Eric aufnimmt, ist bereits klar, in welche Richtung sich das Blatt wendet. Doch Danny stört das am wenigsten – er weiß ganz genau, dass die anderen Rayburns nicht so heilig sind, wie sie gern wären.
Serienfans können froh sein über den Boom, den AMC 2008 mit Breaking Bad auslöste. Inmitten der zahlreichen Kriminal- und Krankenhausableger gab es lange Zeit wenig, das richtig begeistern konnte. Der Geniestreich lockte die Macher wieder aus ihren Verstecken. Und hier haben wir zweifelsohne eines der Produkte, die perfekt im Aufwind der abwechslungsreichen Serienlandschaft schweben können.
Denn wenn etwas hier keinen Platz hat, ist es aufeinandergeballte Action. Bloodline ist eine Drama-Serie, die ihrem Genre gerecht wird. Die Wirkung spielt sich subtil ab und ergibt sich aus dem Zusammenspiel der stark gezeichneten Charaktere. In ihnen liegt die größte Stärke des 13 Folgen starken Atmo-Riesen: So ruhig, dass es stellenweise sogar beunruhigend ist, fallen die Masken der einzelnen Familienmitglieder und offenbaren eine Tragödie, die geradezu dafür prädestiniert ist, eine Gemeinschaft zu spalten. Man ist sich seiner Gefühle unsicher. Während man bemüht ist, nicht vorzuverurteilen, und anfangs noch seichte Sympathien entwickelt, lösen sich diese mit jedem weiteren Detail wieder auf. Man fühlt mit, da beinahe jeder Fehler unter die Kategorie menschlich fällt und somit verständlich erscheint. Umso schockierender sind daher die bittersüßen Brotkrumen, die Danny im Laufe des Geschehens fallen lässt. Sie zeigen uns das Ausmaß der Tragödie und offenbaren, dass wir eigentlich nur an der Nase herumgeführt wurden. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und schließlich stehen wir auf einer Weide, auf der nicht nur ein schwarzes Schaf grast.
Diese Erkenntnis wird durch die zur Perfektion entwickelten Charakterrollen weiter verstärkt. Die persönlichen Verfehlungen gründen in den eigentlichen Vorzügen der jeweiligen Personen, wodurch sie umso grausamer erscheinen. Wenn ein Cop die Kontrolle verliert oder eine Anwältin nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann, merken wir, dass niemand unfehlbar ist. Auch, wenn wir das in einigen Momenten gern sehen würden.
Das achronologische Storytelling versucht allerdings auch gar nicht erst, etwas unter den Teppich zu kehren. Dannys jüngerer Bruder John erzählt die Geschichte der Rayburns und stellt immer wieder Schuldgeständnisse und nachdenkliche Kommentare in den Raum. Begleitet werden diese im Vergleich zum ’normalen‘ Verlauf von Rückblenden, die man bis zum großen Finale trotz eindeutiger Bilder nicht einordnen kann.
Angenehm ist dabei vor allem, dass die Nebenhandlungen nicht zu dick auftragen oder gar ablenken. Natürlich gibt es sie. Doch die Ideengeber Daniel Zelman, Todd und Glenn Kessler haben es geschafft, sie perfekt auf die Familie Rayburn zu fokussieren. Das macht die anderen Handlungsstränge übrigens keinesfalls banal. Es werden lediglich die Aspekte beleuchtet, die mit den Hauptcharakteren in Berührung kommen, ohne daran eine haarsträubende Hintergrundgeschichte aufzudröseln.
Einen weiteren Pluspunkt bietet die unglaubliche Kulisse der Keys. Die Idylle des Traumstrands bildet einen starken Kontrast zu den Vorgängen, die unter dem Schein des vermeintlichen Familienfriedens brodeln. Man möchte sich dorthin versetzen, ausspannen, den Tag genießen und kann sich gar nicht vorstellen, dass dort irgendeine Bedrohung lauert. Vielleicht ist es gerade dieser Eindruck, der das Geschehene noch unglaublicher macht. Denn seit Dannys Ankunft wenden sich die Dinge zum Schlechten – nicht nur wettertechnisch.
Die räumlichen Eindrücke sind gleichzeitig auch die größte Effekthascherei, die es in Bloodline gibt. Die musikalische Untermalung ist so minimalistisch, dass man sie zurecht als atmosphärisch bezeichnen kann. Ruhige Szenen, etwa von Autofahrten oder nachdenklichen Gesichtern, stützen die Stimmung und schlagen Brücken zwischen wichtigen Angelpunkten der Story.
Gäbe es nicht ab und zu den Versuch, noch den letzten Kick reinzubringen, hätte man an dieser Serie tatsächlich nichts zu mäkeln. Doch es passiert tatsächlich, das mancher Charakter seine vorgesehene Entwicklung zu früh durchmacht. Gern würde man John vor einem seiner Sinneswandel noch die ein oder andere Folge zugestehen, damit es nicht wirkt, als hätte man Teile des Drehbuchs im Nachhinein gelöscht.
Das Ende hingegen offenbart schlicht und ergreifend einen Kunstfehler von fast jeder Serie: Man will einen Cliffhanger. Um jeden Preis. Bei so ausgereiften Entwicklungsprozessen eines Plots braucht man ihn eigentlich nicht. Aber es gehört zum guten Ton der Fernsehwelt und deshalb bekommt auch das Ende der ersten Bloodline-Staffel einen. Es mag kein guter sein, er zeigt aber immerhin eines: Ja, es gibt 2016 Nachschub!
Bloodline ist kein Beispiel für pures Entertainment. Es regt zum Nachdenken an, denn das Mitfühlen wird einem schwerer gemacht, als man es aus dem heutigen emotionslastigen Programm kennt. Die Ängste, die wohl in jedem Menschen schlummern, treffen in einer unerwartet aufreibenden Story zusammen. Wer ein Wochenende Zeit hat, ist hiermit angehalten, vielleicht einige Netflix-Doppelschichten einzulegen. Denn auch wenn es schade ist, das Episodenpulver so schnell zu verschießen, haben wir es hier nicht mit Material zu tun, das gern allein stehen möchte. Aber wahrscheinlich ist dieser Rat unnötig. Denn wenn man sich erst einmal in die Blutlinie der Rayburns eingefunden hat, ist es ohnehin schwer, wieder loszulassen.