Die Droge aus dem Internet
Können Töne über Kopfhörer einen Rauschzustand auslösen? Ein Selbstversuch
Wäre es nicht eine Revolution, wenn es Drogen ohne negative Effekte gäbe? Eine Möglichkeit, Wachheit und Fröhlichkeit nicht gegen Kater, Müdigkeit und Tiefpunkte eintauschen zu müssen? Einigen Amerikanern soll dieser Sprung nun gelungen sein.
I-Dosing nennt sich der moderne Weg, um neue Bewusstseinsebenen zu erreichen. Einzige Hilfsmittel: Ein Computer und funktionierende Kopfhörer.
Initiator ist die Internetplattform I-Doser.com. Über binaurale Beats soll es möglich sein, Rauschzustände herkömmlicher Drogen und andere Effekte zu imitieren.
Dass es eine Wirkung gibt, ist durch Tester bewiesen. Zudem soll die Nutzung für jeden komplett ungefährlich sein, wie das Team aus Programmierern, Tonexperten und Wissenschaftlern in den FAQs bekannt gibt. Zeit, das ganze einmal selbst auszuprobieren.
Die Website zeigt mir dabei meine Möglichkeiten und begrenzt sie gleichzeitig: Jeder Track kostet Geld. Drei bis sieben Dollar pro Download, zusammengestellte Packs gibt es ab 17 Dollar. Dies umgehe ich mit einem kleinen Trick: Lädt man kostenlos eine Applikation herunter, über die man theoretisch auch Beats kaufen könnte, lässt sich eine Auswahl von drei Audios öffnen. „Sleeping Angel“, „Content“ und „Alcohol“ bleiben mir also für meinen Versuch.
Die Dosis, die fast jeder Student am ehesten nachvollziehen kann, ist der Alkohol. Der Effekt von fünf Gläsern Gin soll mit ihr vergleichbar sein. Sie verspricht Entspannung und Freude – garantiert ohne Hangover!
Es ist circa 21.30 Uhr als ich mich entspannt aufs Bett lege, um mich über Kopfhörer von den seltsamen Lauten beschallen zu lassen. Natürlich habe ich vorher die Tonstrecke durchgeklickt, um zu sehen, worauf ich mich da einlasse. 35 Minuten Alkohol. Klar, wenn man für das Klangerlebnis erst in einen meditativen Zustand übergehen muss. Damit es auch wirklich funktioniert, habe ich für den Versuch extra einen stressfreien Tag gewählt. Mein geistiges Wohl sollte dem Test also entgegenkommen.
Die Kopfhörer, die ich benutze, bedecken die Ohren komplett. Ich möchte damit die äußeren Einflüsse so gut es geht verringern. Nur eine kleine Lampe beleuchtet den Raum.
Als ich den Beat starte, frage ich mich zuerst, wie das 35 Minuten lang funktionieren soll: Ich höre einen riesigen Wasserfall in Verbindung mit einer surrenden Waschmaschine. Aus dem Wasserfall wird Regen, dann erinnern die Töne eher an ein TV-Störbild. Mich wundert es, dass das Gemisch aus Undefinierbarem sich problemlos anhören lässt.
Das Experiment zeigt Wirkung
Nach ungefähr sechs Minuten scheint mein Gehirn darauf zu reagieren. Wie bei einer Gänsehaut zieht sich ein Schauer über die rechte Hälfte meines Hinterkopfes.
„Binaurale Beats“ ist hier das Zauberwort. Die Mischung aus seltsamen Assoziationen entsteht, weil über den Kopfhörer gleichzeitig Töne in verschiedenen Frequenzen übertragen werden – körperliche Effekte nicht ausgeschlossen.
Das kann ich bestätigen. Abgesehen davon, dass es mir mittlerweile vorkommt, als würde ich wispernde, undeutliche Stimmen hören, wird mir kurze Zeit später unglaublich warm. Ich konzentriere mich gerade in solchen Momenten noch mehr auf die Struktur der Beats. Dieses flackernde Rauschen, dieser Wellenrythmus scheint viel zu unspektakulär zu sein, um etwas zu bewirken. Und trotzdem passiert es. Ich nehme kleinste Veränderungen wahr: Tempovariationen, wenn die Waschmaschine langsamer wird, Lautstärkeunterschiede, wenn der Regen anschwillt. Nach weiteren fünf Minuten fühle ich mich einfach nur noch entspannt. Ich liege bewegungslos da und lasse mich berieseln. Ab und zu zuckt mein Körper, als wäre ich auf dem Weg, einzuschlafen. Tatsächlich bewege ich mich im Moment auf dem schmalen Grat zwischen Schlaf und Wachzustand. Mein Geist ist vollkommen klar, will die Beats analysieren, die gerade versuchen, mir fünf Gläser Gin zu verabreichen. Mein Körper tut das, was er wahrscheinlich auch bei fünf echten Gläsern tun würde: Er wird immer müder und entspannter. Ich kann ihn unglaublich deutlich spüren, in Gedanken an jedem Körperteil entlangwandern und kleinste Einzelheiten wahrnehmen.
Besonders alkoholisiert fühle ich mich dennoch nicht. Es breitet sich zwar das dumpfe Kribbeln in Armen und Beinen aus, das bei mir meistens die erste Wirkung des Alkohols anzeigt, sonst ist aber alles beim Alten.
Wenige Momente später bin ich sehr froh, dass ich liege Ich kann nicht sagen, was genau passiert ist, aber plötzlich bin ich einfach weg. Es ist wie ein Sekundenschlaf. Ich habe das Gefühl, voll da zu sein und weiterhin den Beats zuzuhören. Als meine Augen sich öffnen kommt das böse Erwachen: Es ist 2: 32 Uhr. Ein nüchterner Totalabsturz!
Die I-Dose ist längst vorbei, die Kopfhörer liegen neben mir, ich bin einfach eingeschlafen. So schnell so tief, dass ich es gar nicht gemerkt habe. Das sonore Hintergrundbrummen des „Alcohol“ hämmert noch immer in meinem Kopf. Ich muss vier ein halb Stunden geschlafen haben.
Da ich nach diesem Päuschen hellwach bin, will ich meinen Selbstversuch gleich in Worte fassen. Nebenbei lasse ich die I-Dose über die normalen Lautsprecher laufen und verstehe auf einmal gar nicht mehr, wie ich verschiedene Dinge in dem monotonen Brummwirrwarr hören konnte. Ohne Konzentration und Kopfhörer klingt alles gleich. Allerdings spüre ich nach wie vor eine tiefe Entspannung, die noch lange anhält.
Der perfekte Muntermacher ist noch nicht gefunden
Ich kann nicht sagen, ob meine körperlichen Reaktionen wirklich von der I-Dose herrührten. Doch viele waren so, wie ich sie in stärkerer Form auch bei echtem Konsum verspürt hätte. Die Wirkung geht hierbei auf die innere Einstellung zurück, weshalb die Beats auf Anhieb nicht bei jedem funktionieren werden. Ich habe mich bereitwillig auf Geschehnisse eingestellt und erhielt diese. Zudem kenne ich bereits sehr starke Reaktionen aus meinem engsten Kreis, die sich nicht nur körperlich, zum Beispiel durch heftiges Zucken, äußerten, sondern auch psychischer Art waren und so noch Stunden nach dem Hören ein Angstgefühl hinterließen („Gate of Hades“); ein Placebo-Effekt?
Wer weiß? Fest steht: Der perfekte Muntermacher ist wohl noch nicht gefunden. Wer aber, wie ich, an einem kleinen Selbstversuch interessiert ist, sollte sich auf jeden Fall die ein oder andere Dosis gönnen.