Selbstironie im Farbenrausch
Musicals haben Eigenschaften, die die Geister der Menschen spalten. Jegliches Gefühl wird durch Gesang zum Ausdruck gebracht, alle sehen fabelhaft aus und können tanzen, die Kulissen und Kostüme sind an Farbe und Verzierung nicht zu übertreffen. Dass das nicht bei jedem ankommt, wissen auch die Macher. Bei Aladdin scheint es daher irgendwie das Ziel gewesen zu sein, neben einer orientalischen Liebesgeschichte genau das zu zeigen. Schade, dass man dabei inmitten des Farbenwusels teilweise über das Zeil hinausschoss. Nicht jeder Zuschauer ging mit dem wohligen Disney-Gefühl im Bauch nach Hause.
Zeit zum Träumen. Kaum ein Konzern konnte dieses Motto in den letzten Jahrzehnten so für sich pachten wie die Walt Disney Company. Als Tarzan 2013 nach einer erfolgreichen Spielzeit die Neue Flora in Hamburg verließ, war daher schon vorprogrammiert, dass der Löwe im Hafen neue Disney-Verstärkung braucht! Hier ist sie also, in Form eines aufgeweckten Jünglings, der uns in tausendundeine Nacht entführt.
Wobei, eigentlich tut das ja der Dschinni. Als sich der kunterbunte Orientvorhang öffnet, empfängt ein sichtbar vorfreudiger Enrico de Pieri sein Publikum und beginnt sogleich, eine mystische Geschichte zu erzählen. Auch wer den Zeichentrickklassiker aus dem Jahr 1992 nicht kennt, hat somit keine Startschwierigkeiten. Es geht hier immerhin um die große Liebe zwischen dem Straßenjungen Aladdin, der herzensgut, aber leider bettelarm ist, und der hübschen Prinzessin Jasmin, die sich nach der Freiheit hinter den Palastmauern sehnt. Der Plot ist gleichgeblieben, auch wenn man sich für die Musicalumsetzung erlaubte, Als Affenkumpel Abu in drei schnittige Männer und Jasmins Tiger in drei adrette Freundinnen zu verwandeln. Auch Papagei Jago erhielt eine menschliche Identität.
Abgesehen davon bleiben die Zuschauer in bekannten Gefilden. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb man sich entschied, bei der Europapremiere von „Aladdin“ direkt in die Vollen zu gehen. Im wilden Farbenrausch erwacht die Stadt Agrabah. Vielleicht sogar etwas zu schnell, denn da sich unmittelbar nach Beginn das gesamte Ensemble auf der Bühne einfindet, um mit de Pieri das Publikum anzuheizen, wird es fast etwas zu hektisch und überladen. Dies zeigt sich später vor allem in der Wunderhöhle, in der ein 3-Minuten-Originalsong schnell mal zur viertelstündigen Showrevue inklusive Stepptanzeinlage und Dancing Show-Charakter wird. Eine eindrucksvolle Leistung der Darsteller. Etwas zu viel, um die Geschichte sinnvoll voranzutreiben.
Viel zu sehen gibt es dafür aber allemal! Nicht nur inmitten des tanzenden Basars hat man Gelegenheit, den Blick ausgiebig schweifen zu lassen.
Die detailreichen Kostüme sind farbenprächtig, funkeln dazu aber auch mit den Kulissen um die Wette. Diese sind, wie schon bei der letzten Stage-Premiere, dem Phantom II, angenehm vielseitig und beweglich. Vom bunten Basar geht es zum edlen Palast und natürlich auch zur Wunderhöhle, deren Tigerkopf sich vor den Zuschauern erst einmal aufbaut, um dann sein fantastisches Inneres zu offenbaren. Bei all dem Gold lässt König Midas herzlich grüßen. Und was die Effekte angeht, wurde weder an Feuerwerk, noch an Luftschlangen gespart.
Ein weiterer Blickfang sind natürlich auch die Darsteller selbst, die, wie der Dschinni schon andeutet, alle „Leistungskurs Tanz belegt haben“ und außerdem fabelhaft aussehen. Ja, die Selbstironie ist groß an diesem Abend. Und sie zieht sich wie ein Faden durch die Vorstellung.
Natürlich gefällt das. Wie eingangs erwähnt haben Musicals mit Vorurteilen zu kämpfen, die auch Fans nicht widerlegen können. Sie mögen die bunte Wunderwelt ja gerade weil sie kitschig ist. An manchen Stellen trug man hier aber etwas zu dick auf. Während die Originalvorlage vorsichtig mit aktuellen Bezügen spielt – man denke an den fahrenden Händler, der den Zuschauern „original babylonische Tupperware“ anbietet – ging man im Musical wieder aufs Ganze. Das gesamte RTL- und Pro7-Trash-Programm in Dschinnis Texte zu schreiben und ihn in Jack-Sparrow-Manier agieren zu lassen, grenzt beizeiten – so sehr diese Einschätzung auch schmerzt – an Albernheit. Vor allem, wenn im Verlauf auch noch Aladdin Freunde auf den Zug aufspringen und beginnen, zu erklären, warum sie gerade singen oder tanzen oder sich aufgrund des Platzmangels auf der Bühne gar nicht wirklich vorwärtsbewegen.
Manch ein Anwesender im Publikum lachte nach der Hommage an GNTM-Bekanntheiten Tränen, während andere schockiert von dem Versuch, aus allem einen Witz zu machen, die Hände vors Gesicht schlugen.
Enrico de Pieri erhielt am Ende der Vorstellung den größten Applaus. Zurecht: Er leistet als quirliger Dschinni einiges und brabbelt in unterschiedlichen Sprachen und Gemütszuständen drauf los, dass man innerhalb der zweieinhalb Vorstellungsstunden einfach ab und zu schmunzeln muss. Wie schade aber, dass man es nicht bei den guten Witzen beließ und sich auf den Dschinni stützte, der am Anfang begann, die Geschichte zu erzählen. Einem so talentierten und ambitionierten Darsteller wäre dies auf jeden Fall zu gönnen.
Weit fort von diesen Problemen schwebten Aladdin Richard-Salvador Wolff, der an diesem Abend den Auftakt seiner ersten Hauptrolle feierte, und Jasmin Myrthes Monteiro. Sie gaben ein bezauberndes Paar ab und boten mit ihrer nächtlichen Reise auf dem fliegenden Teppich den Wow-Effekt des Abends.
Rückkehrer Ethan Freeman, der bereits als Kerchak in Tarzan zu sehen war, machte den beiden als durchtriebener Bösewicht das Leben schwer und präsentierte sich durchweg als perfekte Wahl. Mit Eric Minsk im Schlepptau, der bereits als Verrückter Renfield in Dracula bewies, wie sehr ihm der Bühnenwahnsinn liegt.
Und auch Philipp Tobias Hägeli könnte Hamburger Musicalfreunden bekannt sein. Statt als Tarzan springt er nun als Aladdins Freund Kassar über die Bühne und vollführte mit Stefan Tolnai und Pedro Reichert ein paar amüsante Gruppenperformances.
Wie Dschinni anfangs sagte, da saßen die Witze noch, singen können sie allesamt. Die musikalische Seite stimmt also, auch wenn man sich seitens des Komponisten Alan Menken an mancher Stelle etwas mehr Originalität gewünscht hätte, vor allem bezüglich der Titel, die nicht aus der Zeichentrick-Vorlage stammen. Zumindest mehr Originaltexte wären für Disneyfans wünschenswert gewesen.
Insgesamt glänzt das arabische Wundermärchen also vor allem durch sein fulminantes Erscheinungsbild und die bekannten Melodien, die von Darstellern interpretiert werden, die ihre Rollen wunderbar ausfüllen. Eine Reizüberflutung ist aufgrund der vielen Ensemblenummern im Farbenrausch allerdings nichts ausgeschlossen, ebenso wie ein plötzlicher Stimmungsumschwung, wenn ins Drehbuch mal wieder ein wenig mehr Switch-Stimmung eingebaut war, als man an einem träumerischen Abend um sich haben möchte.
Der Grat zwischen überladenem Kitsch und prunkvollem Schmuck ist offenbar ebenso schmal, wie der zwischen subtilen Zeitbezügen und dem Wunsch, so viel Komik wie möglich einzubauen.
Schön