Der Medicus

Für das Wissen bis ans Ende der Welt

Bereits 1986 veröffentlichte Noah Gordon sein Buch „The Physician“, dessen deutsche Übersetzung sich über sechs Millionen Mal verkaufte. 2013 folgte dann die erfolgreiche Filmadaption. Mit Produktionskosten von 26 Millionen Euro gelang es Regisseur Philipp Stölzl, dem medizinischen Tun des 11. Jahrhunderts ein Gesicht zu geben. Das Problem dabei: Möchte man den Film vollends genießen, sollte man das Buch nicht kennen.

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© Universal Pictures

Die Medizin steckt im 11. Jahrhundert noch in den Kinderschuhen, zumindest in London. In dieser Zeit wächst der junge Robert Cole (gespielt von Tom Payne) mit zwei Geschwistern bei seiner Mutter auf, die direkt zu Beginn an der Seitenkrankheit stirbt. Er schließt sich einem fahrenden Bader an, der ihn sein Wissen lehrt. Doch es ist geringer, als Rob vorerst ahnt. Als sein Meister erblindet und der Lehrling bei einer Augenoperation zusehen kann, die von einem jüdischen Arzt durchgeführt wird, spürt er den Drang, noch mehr lernen zu wollen, und macht sich auf nach Isfahan, um von dem Arzt der Ärzte Ibn Sina zum Hakim gemacht zu werden. Doch dafür muss er erst einmal den jüdischen Glauben studieren – Christen werden im Kalifat geächtet.

Die Lebensgeschichte des Rob Cole ist eine langwierige. Auf über 800 Seiten schildert Noah Gordon im ersten Band der Medicus-Reihe das Leben des Waisenjungen, der, von Wissbegierigkeit geleitet, bis ans Ende der Welt reist, um Menschen vor dem Tod bewahren zu können. Wer das Buch kennt, wird gleich das Tempo bemerken, das in der Verfilmung vorherrscht. Angefangen bei der familiären Konstellation der Coles, bleibt dabei vor allem die charakterliche Entwicklung des Protagonisten auf der Strecke. Denn während es im literarischen Werk um einen wissenshungrigen, auf die Medizin fixierten Rob Cole geht, der sogar die Ehe mit seiner Geliebten Mary aussschlägt, um die Kunst des Heilens zu lernen, vereint der Film-Charakter alle männlichen Hauptpersonen des Buchs in sich und durchlebt damit zeitlich reduziert mehrere Schicksale, die aber eher aufeinandergestaffelt erscheinen, anstatt einen Fortschritt aufzuzeigen. Damit erklärt sich auch, warum der gute Baderlehrling in der ersten Stunde so seicht daherkommt. Der Fokus liegt eindeutig auf der Handlung, die sich grundlegend vom Buch unterscheidet. Die einzigen identischen Elemente sind die Namen der meisten Figuren und der Plot des reisenden Medizin-Studenten. Keiner der Nebenstränge ist der literarischen Vorlage nachempfunden.

Von Substanz kann bei einigen Figuren daher gar nicht gesprochen werden. Die Freunde von Jesse Ben Benjamin, wie Rob sich für seine Reise nach Isfahan nennt, sind schlichtweg unnötig. Michael Marcus als Mirdin hat die Funktion des Moralapostels, Elyas M’Barek, vielerorts für seine schauspielerische Leistung als Karim kritisiert, stellt einfach den dritten Religionspol zwischen seinem jüdischen und seinem christlichen Freund dar. Sie geben ein gutes Studentendreiergespann ab, mehr aber auch nicht, denn ihre Schlüsselfunktionen und Schicksale wurden für den Film ja auf Rob übertragen. im Gegensatz dazu stechen Stellan Skarsgård als Bader und Ben Kingsley als Ibn Sina durch ihre schauspielerische Leistung so hervor, dass man sie nicht missen möchte. Immerhin.

Denn auch stilistisch hat der Film zu kämpfen, ausgerechnet mit seinen eigenen darstellerischen Elementen. Während die Geschichte durch einen entschleunigenden Mix aus dokumentarischem und biografischem Stil erzählt wird, versucht man krampfhaft, inhaltliche Höhepunkte einfließen zu lassen. Als ob der Kampf gegen die Pest und die religiösen Streitigkeiten nicht genügend Stoff bieten würden, äußert sich die Gezwungenheit in Form einer herkömmlichen Liebesgeschichte, die dem innovativen Vorbild aus dem Buch nicht annähernd gerecht wird. Emma Rigby hat als Rebecca einfach nur gut auszusehen. Klischeehaft treffen sich Rob und seine Angebetete nach einem Sandsturm in Isfahan wieder, wo sie mit einem hohen Gemeindemitglied verheiratet wird. Als würden die beiden sich schon ewig kennen, trauern sie umeinander, und wagen sich natürlich an eine geheime Beziehung heran, die darin gipfelt, dass der liebestolle Medicus Rebecca mitten in der Krankenstation verführt, anstatt sich weiter auf die Behandlung der Pest zu kümmern. Dieser werden gerade einmal fünf Minuten zugedacht, in denen Rob die Erkenntnis erlangt, dass Rattenflöhe die Krankheit übertragen. Inklusive Ungezieferbeseitigung und weiterer Untersuchungen. Hinzu kommt der Kampf des Schahs gegen die angreifenden Seldschuken, der vielleicht als Showdown erdacht, aber nicht umgesetzt wurde. Eindrucksvoll inszeniert reiten die Kämpfer in die Schlacht, ohne dass ihnen danach auch nur eine Kampfszene gegönnt wird. Warum diese Details bei einer Umstellung der literarischen Vorlage noch erwähnt blieben, während viele, auch im filmischen Kontext wichtige Details Kürzungen zum Opfer fielen, ist rätselhaft.
Dennoch muss man zugeben, dass der Film inhaltlich rund ist. Nicht-Leser werden durch einen logischen Ringschluss überzeugt: Begann die Story mit dem Tod von Robs Mutter, kann er weit entfernt am Ende der Welt die Heilung für ihre Krankheit entdecken. Und das nur, indem er sich über all die religiösen Regeln hinwegsetzt, die ihn beeinflussen, seit er sich auf den Weg zu Ibn Sina machte.

Die größte Stärke des Films liegt in der Arbeit von Regisseur Philipp Stölzl. Der Deutsche, der neben Filmen auch schon Musikvideos drehte, weiß die atmosphärischen Kulissen gut in Szene zu setzen und schafft so einen eindrucksvollem Kontrast aus dem schmuddeligen London und der strahlenden Stadt Isfahans, gekrönt von der Madrasa, dem Lehrort der Medizinstudenten. Auch die Kostüme wirken realistisch. Dass es insgesamt einige historische Ungereimtheiten gibt – zu der Zeit, in der das Buch angesiedelt ist, gab es beispielsweise keine Pestepidemie an den entsprechenden Orten – kann der Geschichte nachgesehen werden; schließlich geht es um den Fortschritt der Medizin, der hier beispielhaft skizziert wird. Und gerade diesen Bildern ist es zu verdanken, dass ein stellenweise eindrucksvoller Film entstehen kann – egal, wie man nun den Inhalt beurteilt.

Die abschließende Beurteilung der Verfilmung hängt also stark an den Eindrücken, die einem aus dem Buch geblieben sind. Wer es bis zum Ende gelesen hat, hat sich intensiv mit wissenschaftlicher Materie befasst und der Entwicklung eines jungen Mannes beigewohnt, der in harten Zeiten harte Maßnahmen ergreifen muss. Nicht nur, um zu überleben, sondern auch, um seinem Traum nahezukommen. Den fleißigen Lesern wird es daher schwer fallen, dem oberflächlichen Abdruck ‚ihrer‘ Geschichte viel abzugewinnen, vor allem, da die eigene Imagination natürlich bereits eigene Vorstellungen geschaffen hat, die hiermit über den Haufen geworfen werden.
Kennt man das Buch nicht, kann sich einem hingegen eine ganz andere Welt eröffnen. Und diese übertönt möglicherweise sogar den Mix aus unzulänglicher Charakterentwicklung und abgedroschener Schnulz-Romanze. Die fremden Personen bilden neuartige Charaktere, die entsprechend nicht ‚falsch‘ sein können. Und wer nicht weiß, dass wir die ganze Zeit einem vollkommen anderen Medicus gegenüberstehen, kann die Geschichte des Rob Cole wahrscheinlich sogar genießen.

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