Das Wunder von Bern

Sieg auf allen Ebenen? Der Kampf ums Überzeugen

Die verschiedenen Kunstarten sehnen sich nach großen Geschichten. Es muss meist um Liebe gehen, tragisch sein, wenn auch nur subtil, vielleicht auch komisch, aber auf jeden Fall starke Emotionen vermitteln, die jeder spüren kann. Dieses Ziel verfolgt kaum eine Branche so sehr, wie das Musical. Was erwartet man also bei einer Deutschland- und Weltpremiere in dem ersten Theaterneubau seit 1999? Genau, eine geballte Ladung von allem! Doch im ersten Moment scheint das Premierenstück „Wunder von Bern“ zu viel vereinen zu wollen, um in allen Punkten zu glänzen. Die Probe aufs Exempel.

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Das Jahr 1954. Nachkriegszeit in Deutschland. Christa Lubanski ist Mutter von drei Kindern und deren alleinige Ernährerin. Ihr Mann Richard kam nach dem Krieg nicht zurück, wurde vor 12 Jahren in Russland gefangen genommen. Ob er noch lebt, ist ungewiss. Dennoch sollen Bruno, Ingrid und Matthias das Leben genießen, so gut es geht. Der Älteste hat sich dem Rock’n’Roll verschrieben und nimmt seine Schwester, die liebend gern tanzt, mit auf diverse Veranstaltungen. Das Herz des kleinen Matthias schlägt hingegen für den Fußball. Als Balljunge seines großen Idols ‚Boss‘ Helmut Rahn, besucht er das Training seiner Lieblingsmannschaft Rot-Weiss Essen und wünscht sich nichts mehr als eine Nominierung Rahns für die Nationalmannschaft. Er ist es gewohnt, vaterlos aufzuwachsen. Doch als die Familie die Nachricht erhält, dass Richard Lubanski im Kriegsgefangenenlager überlebt hat, ändert sich ihr Leben schlagartig. Der gebrochene Mann will für Recht und Ordnung im Hause sorgen, obwohl die Höllenjahre ihm schwer zugesetzt haben. Das Familienheil droht zu zerbrechen.

Stage Entertainment - Das Wunder von Bern
Christa will Matthias helfen, seinen strengen Vater zu verstehen

Wer sich nun fragt, worum genau es im Wunder von Bern geht, sieht sich mit mehreren Themenkomplexen konfrontiert. Denn es wird auf zwei Hochzeiten getanzt. Während man emotional eher auf die zerrüttete Familie schaut, übernimmt die Fußball-WM mit all ihren Wendungen den humoristischen Part.
Dies hört sich an wie eine starke Trennung der Ereignisse, erstaunlicherweise zeigen die beiden Seiten aber gerade im deutlich stärkeren ersten Akt, dass sie zusammenpassen. Junge Darsteller in bestechendem 1954er-Kindchenschema beginnen, den Zuschauern die Fußball-Euphorie einzubläuen, während die trainierten Sportler mit Balltricks ihr Übriges beisteuern. Die Stärke des Stücks ist schnell definiert: Die Gruppenperformances greifen am besten. Seien es die alten Männer, die nörgelnd dem Training des Heimatvereins folgen oder die Nationalspieler, die auf dem Platz auf höchst eindrucksvolle Weise die neuen Stollenschuhe testen. Die Inszenierung ist nicht nur schön anzuzsehen, sondern steigert auch die Erwartungshaltung. Mit passender musikalischer Untermalung wird man immer weiter ins WM-Fieber gezogen. Und auch abseits der Gruppenszenen scheint es, als habe man sich eine Scheibe von Rockys großem Endkampf abgeschnitten: Die Aufmachung des Stückes ist modern, man spielt mit Projektionen und Effekten, die im neuen Hamburger Theater erstmals so intensiven Einsatz finden. So setzt vor allem die Szene, in der Richard nach seiner Rückkehr die Arbeit in der Zeche wieder aufnimmt, einen emotionalen Höhepunkt. Während seine Ankunft am Bahnhof unerwartet neutral abgebügelt wird, erlebt er nach einer virtuellen Fahrt in den Schacht einen Flashback, bei dem sich Ex-Balboa Dirk Leistenschneider als überzeugender Interpret outet.

Das Wunder Von Bern - Video-Dreh in Berlin
Die Jugend verbreitet mit ihrem Rock’n’Roll Lebensfreude, auch wenn es nicht viel Anlass zur Freude gibt

Innerhalb der Familie Lubanski hingegen gibt es einige Unstimmigkeiten. Nicht nur persönlich. Denn während Vater Richard seine Kinder auf ungerechte und vor allem unverständliche Weise zu erziehen versucht, sind es auf lange Sicht gesehen Christa und Ingrid, die zu Sorgenkindern werden. Sie scheinen im Großen und Ganzen eine zu geringe Wirkung zu haben, sind irgendwie abgekapselt vom Rest des Ensembles, in dem sogar die einzelnen Fußballer ihren festen Platz und vor allem tragenden Grund haben. Dies liegt mitnichten an den Stimmen oder der darstellerischen Leistung! Denn sowohl Vera Bolten als auch Marie Lumpp passen ganz hervorragend in ihre Rollen. Doch wirken diese leider, als würden sie dem Stück keinen Fortschritt bringen. Mutter Christa, die jahrelang auf ihren Mann wartete, will die Familie zusammenhalten und kommt doch nicht gegen das Temperament der einzelnen an, während Tochter Ingrid sich zwar zeitweise gegen das Tun des Vaters aufbäumt, im Endeffekt aber doch das liebe Mädchen bleibt, das Konfrontationen aus dem Weg geht. So tun die beiden genau das, was man von ihnen erwartet. Ob diese Rollenkonstruktion eher aus dem damaligen Frauenbild resultiert oder zuschulden anderer Faktoren kleingehalten wurde, ist schwer zu sagen. Denn vor allem eines lässt die beiden Damen so in den Hintergrund treten: Anette Ackermann, Journalistengattin und bis zur WM bekennende Fußball-Ignorantin, ist im Wunder von Bern nahezu übermächtig. Gespielt von einer überragenden Elisabeth Hübert lächelt und kokettiert das 60er-Jahre-Girl sich über die Bühne, während nicht nur die andere Figuren, sondern auch das Publikum in seinem Bann stehen. Neben dem kleinen Fußball-ABC verdanken wir ihr vor allem die größten Lacher des Stücks, die ideal platziert und super formuliert sind.
Damit einher geht auch der Pluspunkt des Humors: Dass nahezu jedes Musical seine lustigen Szenen hat und das Publikums damit auf die Probe stellt, ist bekannt und gleichzeitig auch teilweise verschrien. Denn wie in Comedy-Sendungen sind viele Gags eher aufdringlich als urkomisch. In Bern hingegen funktioniert das Zusammenspiel von Witz und Anspruch. Besonders auffällig dabei ist, dass jeder seinen Teil dazu beitragen darf. Ob ein Tetje Mierendorf in Hochform, der als Pfarrer Keuchel Fußballgebete in den Himmel schickt, der total aufgeregte Journalist Paul Ackermann (Andres Bongard) oder einfach eine alte, sehr weise Putzfrau des Hotels, die Stimmung wird konsequent weitergetragen.

DAS WUNDER VON BERN
Vater und Sohn haben einen langen Weg vor sich

Leider kann man dies von Teilen der Diskographie nicht behaupten. Die bereits angesprochene atmosphärische Untermalung ist ebenso wie die Lieder mit Ensemble einwandfrei, einigen Solostücken ergeht es aber leider wie Christa und Ingrid. Sie sind da, weil sie da sein müssen. Eine Familie braucht eine Mutter und jede Szene braucht einen Song. Es sei hinzugefügt, dass dies nicht bedeutet, sie seien schlecht performt oder unpassend. Ganz im Gegenteil: Das Wunder von Bern kann sich stolz mit einem Top-Ensemble brüsten! Schlicht und ergreifend ereilt auch dieses Stück die Kritik, die nicht selten Rocky gegenüber geäußert wurde. Manche Lieder sind als relativ schwach einzuschätzen, vergleicht man sie mit anderen Produktionen wie den Disney-Kooperationen. Im Gesamtwerk sind sie zwar typisch platziert und erfüllen auch ihren Zweck, die Handlung zu unterstreichen oder weiterzubringen. Doch sie beschwingen einen nicht nachhaltig, transportieren teilweise auch nicht die nötigen Emotionen.
Doch keine Sorge: Bei der Traumfabrik Stage Entertainment gibt es natürlich ein Happy End. In Bern angekommen gehören alle Sorgen der Vergangenheit an. Und das gilt ebenso für das Stück, wie auch für diese Kritik. Der Projektionseinsatz am Ende übertrifft alle Erwartungen, die man an ein Fußballspiel hat, das ohne Ball angekündigt wird. Zugegeben, diese scheinen im ersten Moment nicht hoch. Doch wer sich an die Eingangsszene aus Tarzan erinnert, wird erahnen können, wie stark die Bilder sind, die das Spielgeschehen von oben zeigen.

Wir werden also nochmal Weltmeister! Dieser Satz beschreibt am besten, wie man sich am Ende der Reise im Theater an der Elbe fühlt. Das Wunder von Bern ist vielseitig und zeigt die verschiedensten Emotionen, die passend an die Situationen und überzeugenden Darsteller angeknüpft sind, ob das Leiden eines Kriegsveteranen oder fröhliche Rock’n’Roll-Partys. Ein Großteil der Rollen ist wunderbar kreiert und es macht Spaß, einem wirklich tollen Ensemble beim Spielen zuzusehen. Leider wirkt der zweite Akt etwas zu hektisch, außerdem fehlt es einigen Liedern an Tiefe. Doch wenn man den Spagat zwischen zwei vollkommen unterschiedlich emotionalisierten Themen meistern kann, überzeugt das Stück trotz nach wie vor verwirrender Spielortwahl für einen Ruhrpott-Titel.

Stage Entertainment - Das Wunder von Bern
Ein fulminantes Finale beendet das Wunder von Bern

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