Der gute Ruf
Jons Herz pochte. Da stand er nun, versteckt in einer kleinen Kammer der Sporthalle, und wartete, wartete auf Sarah. Sie war das Mädchen, das ihn vor der gesamten Klasse gedemütigt hatte.
Es war eine einfache Einladung zu einem Schulfest gewesen, doch sie hatte abgelehnt. Gerade ihn, den Spitzensportler der Schule, hatte sie abblitzen lassen. Jon ergriff seinen Schlagstock. Er würde Sarah einschüchtern, sie zur Rede stellen, und dann würde er gehen. Sie würde ihm nie wieder so etwas antun.
Er drehte sich zu einem kleinen Fenster um. Draußen war es schon dunkel. Seine Armbahnuhr zeigte 20:04 Uhr. Bald war Sarahs Training beendet. Sie war im Cheerleader-Schulteam, und somit eines der Mädchen, die ihn bei seinen Siegesserien anfeuerten.
Jon war in sie verliebt. Sarahs Abfuhr hatte in ihm ein ziemliches Chaos ausgelöst. Er dachte zurück. Es war ein Leichtes gewesen, dem gutgläubigen Hausmeister seinen Schlüsselbund abzunehmen. Der Mann hatte ihm die Schlüssel anvertraut, nachdem Jon nach einem Besen gefragt hatte. Bisher war wohl noch keinem aufgefallen, dass der Schlüssel für einen Raum der Sporthalle fehlte.
Plötzlich hörte er das Gelächter der Mädchen. Das Training war beendet. Jon wusste, dass Sarah immer die Letzte war, die die Halle verließ, da sie für Liza, die Trainerin, immer noch einige Notizen machte.
Als er das nächste Mal auf die Uhr sah, war es 20:35 Uhr.
„Warum brauchen Mädchen immer so lange, um sich umzuziehen?“, dachte er. Aber das war eine Frage, die ihm wohl kein Mann hätte beantworten können. Dann — endlich —, nach weiteren zehn Minuten, war nichts mehr zu hören. Vorsichtig öffnete Jon die Tür und schloss anschließend wieder ab. Keiner sollte bemerken, dass der Schlüssel je gefehlt hatte. Dann ging er leise in die Kabine. Die Tür öffnete sich ohne zu knarren. Eine Bank stand ihm gegenüber und auf ihr saß Sarah. Wie erwartete machte sie wieder einige Notizen.
„Hallo, Sarah!“, rief Jon. Das Mädchen schreckte auf.
„Oh, Jon . . . „, stammelte sie. „Dich hatte ich . . . gar nicht erwartet!“
„Es sollte auch überraschend sein“, antwortete er mit schwachem Lächeln.
„Warte kurz, ich bin gleich fertig.“
Jon setzte sich. Sarah notierte noch einiges und ging dann in die Halle. Er folgte ihr und sie legte die Notizen ab.
„Also, was willst du? Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht mit dir zur Feier gehe!“
Sie sah Jon mit genervtem Blick an, während er begann, mit dem Schlagstock ein paar Mal auf den Boden zu klopfen. Ihre Augen weiteten sich.
„Was . . . , was willst du damit?!“
Jon richtete den Stock auf Sarah.
„Wie kannst du es eigentlich wagen, mich vor der ganzen Klasse so zu blamieren?!“, schrie er sie an. „Noch kein einziges Mädchen hat es bisher gewagt, mich einfach stehen zu lassen!“
„Du spinnst ja“, entgegnete Sarah. „Du warst einfach zu spät, ich wurde schon gefragt.“
Jon war mittlerweile richtig sauer. In seinem Kopf hämmerte es. Obwohl alles schon wieder vergessen war, in Jons Erinnerung hatte sich alles immer und immer wieder abgespielt. Er wusste, dass den meisten eine Absage nicht viel ausgemacht hätte, doch ihm war so etwas noch nie passiert. Er hatte noch nie verloren, und er würde es auch diesmal nicht.
„Wer hat dich gefragt?“
„Das geht dich gar nichts an!“
„Sag es mir!“
Sarah sah ihn erbost an. „Bist du sicher, dass du schon 17 bist?“
Ein weiteres Mal stieg die Wut in ihm auf. „Warum machst du mich so fertig?“ fragte er.
„Was?! Wer hat denn den Schlagstock in der Hand?“
Das Mädchen zeterte weiter, doch ihre Kommentare flogen an Jon vorbei. Der Schlagstock . . . den hatte er ganz vergessen. Er fühlte nichts. Wie in Trance holte er aus. Einfach, um wieder irgendwas zu fühlen, um zu prüfen, ob der Stock wirklich war. Sarah stand deutliche Panik im Gesicht.
„Jon . . .“, fragte sie langsam, „was tust du da?“
Gerade als sie einen Schritt näher an ihn herantrat, schlug er zu — und er spürte es. Das Mädchen sank zu Boden, eine blutige Wunde am Kopf. Sie war bewusstlos. Der Raum hallte, als der Stock auf den Boden fiel. Hatte Jon gerade das Mädchen, das er liebte, niedergeschlagen? Ihm erschien alles so unwirklich, wie ein Traum. Aber er wusste, dass es kein Traum war, er hatte es getan. Doch das taube Gefühl blieb. Keine Emotionen — nichts. Konnte er einfach so gehen?
„Ein Notarzt!“, schoss es ihm durch den Kopf. Aber würde er einen rufen, dann wüsste Sarah noch alles! Sie würde es allen erzählen und Jons Ruf wäre dahin. Ein weiterer Gedanke schwirrte ihm plötzlich im Kopf herum. Bisher hatte er immer bekommen was er wollte. Aber Sarah würde sich nicht mehr mit ihm verabreden, jetzt nicht mehr.
„Warum soll sie jemand anderes bekommen?“, fragte er sich. „Wenn nicht ich, dann keiner! Ich habe nichts mehr zu verlieren.“ Er klappte sein Taschenmesser auf, das er immer bei sich trug, und kniete sich neben Sarah. Es war ein schneller, tiefer Schnitt, mit dem Jon Sarah die Kehle durchschnitt. Er sprang zurück bevor er mit ihrem Blut in Berührung kam. Kein Risiko. Dann setzte die Taubheit aus. Ein Gefühl des Triumphes durchflutete ihn. Er wartete in der Kabine. Leise summte er ein Lied während Sarah in der Halle verblutete. „Sie hat es verdient“, dachte Jon. Er empfand keine Liebe mehr, es war nur noch Hass. Nach einer halben Stunde nahm er den Stock und das mittlerweile gesäuberte Messer. Mit einem eiskalten Lächeln sah er auf sein Opfer hinunter. „Bye, bye, Sarah“, flüsterte er leise und verließ die Halle.
Das schrille Klingeln eines Telefons ließ Joseph Baker aufschrecken.
„Oh, Leute“, fluchte er, „es ist fünf Uhr am Morgen!“ Mürrisch — wie er morgens war — trottete er zum Apparat.
„Ja?“ maulte er in den Hörer.
„Joseph? Ja, ich bin’s, Mariah!“
„Oh nein“, dachte Joseph. Er war Kommissar und Mariah war seine Kollegin. Sie war blond, und dementsprechend benahm sie sich auch! Der Kommissar hegte keine Abneigung gegenüber Blonden, aber auf Mariah passte alles Negative, was man über Frauen mit dieser Haarfarbe sagte.
„Was ist?!“ schnauzte er sie an.
„Na ja, Teddy sagt, du sollst ganz schnell zur Sporthalle des Gymnasiums kommen. Hier liegt ein totes Mädchen!“
Joseph legte auf und zog — so schnell es ging — ordentliche Kleidung an. Auf der Fahrt zum Fundort dacht er nach. „Hat sie Teddy gesagt?“, fragte er sich und musste ungewollt grinsen. Ted war ebenfalls ein Kollege, und sein bester Freund. Ted Gable mit einem Teddy in Verbindung zu bringen war ebenso verrückt wie zu behaupten, Mariah besäße auch nur einen Funken Intelligenz! Als er ankam, wurde er schon von Ted empfangen.
„Hi, Teddy!“, rief er seinem Kollegen zu und als er dessen genervtes Gesicht sah, wusste er, dass Mariah schon ziemlich anstrengend gewesen war.
„Spaß bei Seite, was ist los?“
„Also Joseph . . .“, Ted führte den Kommissar in die Sporthalle und deutete auf die Mädchenleiche. „Ihr Name ist Sarah Mills, 16 Jahre alt. Das letzte Mal wurde sie gestern beim Cheerleader-Training gesehen. Sie soll wohl immer länger geblieben sein, um noch Notizen zu machen. Wie du siehst hat sie einen Schlag gegen die rechte Schläfe bekommen, aber die Todesursache ist die durchgeschnittene Kehle. Sie hatte Glück, dass sie bewusstlos war, hätte sich sonst nur gequält. Mittlerweile gehen die Kollegen davon aus, dass sie gegen 22:00 Uhr gestorben ist, plus, minus die üblichen Verschätzungen.“
Kommissar Baker betrachtete Sarah genauer. Sie war schlank, ihre braunen Haare waren blutverschmiert.
„Schade, sie war ein sehr hübsches Mädchen . . . Ted, fährst du zu den Eltern? Ich sehe mich hier um.“
Nach fast zwei Stunden hatten die ca. 21 Beamten die gesamte Sporthalle durchsucht. Es befand sich dort nirgendwo eine Tatwaffe. Als nächstes wollte Joseph sich einige Mitschüler vornehmen. Gerade als er auf der Suche nach der besten Freundin Sarahs war, lief ihm ein Junge direkt in die Arme. Er war groß, hatte dunkle Haare und strahlende, blaue Augen.
„Entschuldigung“, rief der Junge ihm zu. Der Kommissar kratzte sich am Kopf.
„Wirkt ja ein wenig zerstreut, der Kerl. Ob er was weiß?“, dachte er und rief: „Bleiben Sie kurz stehen.“
Der Junge hörte aufs Wort und besaß sogar die Freundlichkeit, ihm entgegenzugehen.
„Wer sind Sie?“
„Ich heiße Jon Cooper. Sind Sie ein Polizist?“
„Ja, ein Freund und ich leiten in einem Fall hier die Ermittlungen. Sie wirken ein wenig zerstreut, hat das einen Grund? Wissen Sie überhaupt, was wir hier suchen?“
„Nein, ich weiß nichts. Wegen der Zerstreutheit . . . nun ja, gestern ist etwas passiert, was ich nicht für möglich gehalten hätte, aber wahrscheinlich ist es sogar gut.“ Der Kommissar schien eine heiße Spur zu wittern und hakte nach.
„Was war denn?“
„Ich bin nicht mehr nachtragend! Nicht mehr eifersüchtig. Nichts! Ich fühle mich irgendwie . . . frei. Befreit von allen Lasten!“
„Toll!“ fluchte Joseph fast unhörbar. Dass die Spur doch nur eine Finte war, konnte ja keiner ahnen.
„Kannten Sie Sarah Mills?“
„Kannten?“
„Also wirklich nicht? Sie wissen gar nichts?“
„Ich weiß, dass etwas in der Sporthalle war, etwas Schlimmes.“
„Woher?“
„Wären Sie sonst hier?“
Innerlich stand Mr. Baker kurz vor einem Wutausbruch. Der Junge schien wirklich nett zu sein, aber er war auch wirklich gut im Finten legen. Jedes Mal, wenn es anscheinend einen Hinweis gab, wurde dieser mit der nächsten Antwort wieder kaputt gemacht.
„Gibt es irgendwo ein leeres Zimmer, in dem man ungestört reden kann? Ich würde gern mit Ihnen sprechen.“
„Was war jetzt mit Sarah?“
„Das will ich Ihnen ja sagen!“
„Sie hat viel falsch gemacht in letzter Zeit . . .“
„Oh Mann!!!“ Jetzt fand der Wutausbruch nicht mehr nur innerlich statt. Joseph Baker war kurz davor, einem vielleicht wichtigen Zeugen an die Kehle zu springen.
„Hören Sie endlich zu und sagen Sie mir, wo ein leerer Raum ist! Sie regen mich auf!“
„Das merke ich. Die Kunsträume müssten frei sein.“
Auf dem Weg dorthin beruhigte Joseph sich wieder. Er hatte das Gefühl, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand. Als sie zu zweit in eine Galerie kamen, fiel der Blick des Kommissars auf einige Waffen, die in einer Vitrine lagen.
„Hat zu diesem Kunstraum jeder freien Zugang?“ fragte der Kommissar skeptisch.
„Nur die Leute, die einen Schlüssel haben. Also die Kunstlehrer, der Direktor und der Hausmeister. Aber die sind eh nur nachgemacht, wenn Sie das meinen.“
Jon deutete auf den besagten Schrank. Anschließend nahm er ein kunstvoll verziertes Wurfbeil heraus und spielte damit herum.
„Wie lange glauben Sie, überlebt jemand, dem man dieses Ding ins Herz rammt?“
„Was?!“
Ging es dem Jungen gut? „Ein Linkshänder“, bemerkte Baker beiläufig.
„Mich interessieren Waffen, aber nur kleine, das ist dann weniger blutig wenn es darauf ankommt.“
Nachdem die Waffe wieder zurück im Schrank verschwunden war, begann der Kommissar zu berichten.
„Also, zu Sarah Mills. Sie ist in der Sporthalle . . . tot. Verblutet. Hätten Sie eine Ahnung, wer das gemacht haben könnte.
Während der Kommissar sprach, veränderte sich die Miene von Jon nicht ein bisschen.
„Sehr viele hätten einen Grund gehabt, Herr Kommissar.“
„Sie hatten von vielen Fehlern gesprochen, Jon. Was zum Beispiel hat Sarah getan?“
„Es gibt so viel, ich kann gar nicht alles aufzählen. Aber fragen Sie mal innerhalb der Mannschaft nach . . .“
„Was haben Sie jetzt vor?“ fragte der Ermittler, als Jon in Richtung Tür ging.
„Ich werde jetzt gehen“, kam die Antwort, „ich denke, wir sind fertig.“
Ohne auf die Empörung des Kommissars zu achten, verließ er den Raum. Nachdem die Tür zugefallen war, trat der Polizist einen Stuhl zur Seite, der kurz darauf gegen die Vitrine krachte. Solch eine Unverschämtheit gegenüber einem Gesetzeshüter war einfach unglaublich . . .
Nachdem seine Laune sich gebessert hatte, verließ er den Raum. Die ganzen Kommentare von Jon hatten Joseph Baker zu denken gegeben. Irgendwie schienen in den Worten des Befragten versteckte Hinweise enthalten zu sein. Kleine Waffen . . . Mittlerweile hatte der Pathologe die Schnittwunde untersucht und festgestellt, dass die Waffe wahrscheinlich eine Klinge von ca. 8 cm hatte. „Ungefähr die Größe eines kleinen Wurfbeils“, dachte der Kommissar. „Oder vielleicht ein Taschenmesser?“ Der Junge schien außerdem ziemlich gut über Sarah Bescheid zu wissen. Joseph wollte unbedingt wissen, welche „Fehler“ das Mädchen gemacht hatte. Also ging die Suche nach der besten Freundin weiter. Eigentlich wollte er gerade im Sekretariat nach dem Klassenraum von Jenna Thomson, so hieß das Mädchen, fragen, aber plötzlich hörte er einen lauten Aufschrei aus dem Arztzimmer nebenan. Erschrocken lief er dort hin und sah Ted.
„Was ist?“
„Na ja . . .“
Hilflos blickte Bakers Kollege auf ein Mädchen, das auf einem Bett lag.
„Nervenzusammenbruch? “, wisperte Ted leise und legte seine Hand auf die Stirn. „Ich steh’ auch kurz davor . . .“
„Wie ist das denn passiert?“
„Darf ich vorstellen: Jenna Thomson. Na ja, ich hab ihr das mit Sarah erzählt, und sie ist, na ja, umgefallen? . . .“
„Oh, Mann, Ted . . . du, du bist emotional wie ein Stein!!!“Dann kam ein Arzt durch die Tür und schickte die Männer nach draußen.
„Tut mir leid“, sagte Ted und setzte eine entschuldigende Miene auf. „Aber die Eltern sind nicht zusammengebrochen! Mariah hat das erledigt! Obwohl ich mir nicht sicher bin, was sie mehr schockiert hat, der Tod ihrer Tochter oder unsere Kollegin!“ Er wollte anfangen zu lachen, sah dann aber in Bakers todernstes Gesicht.
„Entschuldige, über so etwas macht man keine Witze!“
„Manchmal glaube ich, du hast deinen Beruf verfehlt.“
Mit eilenden Schritten kamen die beiden beim Hausmeister an.
„Machen Sie sofort eine Durchsage. Die Cheerleader-Mannschaft soll sich in der Halle einfinden. Wir wollen sie vernehmen!“
Ted bemerkte die Verständnislosigkeit des Hausmeisters und fügte ein hastiges „Bitte“ hinzu, bevor der Mann die Mannschaft ausrief.
„Teddy, Jojo!“ wurde ihnen plötzlich zugerufen. Verzweifelt sahen die zwei Männer sich an als Mariah schon beiden um den Hals fiel.
„Ich dachte schon, es wäre etwas passiert! Jo, stell dir vor, plötzlich war Teddy weg!“
„Ungeheuerlich“, gab der Kommissar zurück und zischte seinem Freund zu, „wie kannst du sie allein zu Leuten lassen, die gerade ihre Tochter verloren haben?“
Ein Schulterzucken musste als Antwort genügen, denn dann sprach Mariah weiter.
„Zum Glück war da dieser nette, gut aussehende Nachbar. Der hat mich dann hierher gefahren. Ich glaube er mag mich.“
„Hat er einen Ring getragen?“ fragte Ted beiläufig.
„Ja, einen schönen goldenen!“
„Schon mal was von Hochzeit gehört?“
„Er will mich heiraten, meinst du?“ Erfreut klatschte sie in die Hände.
„Nein!“ schrie ihr Gesprächspartner beinahe. „Er IST verheiratet!“
Mittlerweile waren die Mädchen da. Die Vernehmungen konnten beginnen. Joseph und Ted und zwei andere Polizisten befragten die Mädchen nacheinander. Insgesamt waren es 12, minus dem Opfer und der Kranken also 10. Die ersten drei Befragungen der leitenden Kommissare ergaben nichts. Jedoch schien das vierte Mädchen etwas beisteuern zu können. Shila McGawn hieß die Befragte. Schon ihr Auftreten wirkte arrogant und berechnend, ihre Worte waren jedoch noch härter.
„Hatten Sie ein gutes Verhältnis zur Toten, Miss McGawn?“
„Gut? Bitte? Sie hat mir meinen Freund ausgespannt, die blöde Kuh, und die führende Position in der Mannschaft! Unmöglich!“
Ted und Joseph dachten dasselbe: Unter Aufsicht einer vertrauenswürdigen, dritten Person war Shila bei Mariah bestens aufgehoben, wobei ein stundenlanges Wortgefecht wohl nicht ausbleiben würde. Doch bevor Shila weitergereicht werden konnte, wollte Joseph noch eine Frage stellen.
„Wer hätte ein Motiv?“
„Nun ja, da wären einige Lehrer, Mädchen, denen sie — wie mir — den Freund weggenommen hat, Konkurrentinnen . . .“
Ein Wortschwall, den nicht einmal Mariah hinbekommen hätte, prasselte auf die Kommissare ein. Aber auch das musste erfragt werden.
„Vielleicht wäre da auch Liza. Die beiden haben sich nicht mehr so gut verstanden in letzter Zeit. Sehr mysteriös . . . oder Mary Green. Die kommt als Nächstes, Jon. . . . “
„Jon?!“ Mr. Baker stockte. Anscheinend gab es auch hier Streit.
„Oh ja! Sie wollte nicht mit ihm zum Schulfest gehen! Er ist unser Star. Er hat das wohl nicht gut verkraftet einfach so abserviert zu werden. Tja, viel zu verwöhnt!“
„Aber du“, murmelte Ted. Baker stupste ihn mit dem Ellenbogen und bedankte sich für die Aussagen.
„Kollegen werden den Rest übernehmen.“
Shila hatte das Zimmer verlassen und Erleichterung ging durch den Raum.
„Was für ein Wortschatz! Sind alle Frauen so Joseph?“
„Ehrlich gesagt, ich will’s nicht herausfinden.“
Ein letztes Mal öffnete sich die Tür und ein kleines, zierliches Mädchen kam herein.
„Mary Green?“
„Ja“, piepste die Kleine mit brüchiger Stimme. „Das ist ja alles so schrecklich!“
Sie nahm vor den Herren Platz.
„Wollen Sie denn etwas sagen?“
„Könnten Sie mich vielleicht duzen?“
„Okay“, meinte Ted mit verwundertem Blick zu seinem Freund.
„Willst du aussagen?“ fragte Joseph sanft. „Sonst können wir das auch verschieben.“
„Nein! Ich habe nämlich was zu sagen!“ Sie räusperte sich und erzählte dann: „Wir haben gestritten, Sarah und ich! In ihrer Tasche hat das Handy geklingelt, und da ich als einzige im Raum war, wollte ich es rausholen. Ich weiß, das ist unhöflich, aber es hat gestört.“
„Und Sarah hat dich dabei erwischt.“
„Nein, keiner hat es gesehen. Ich habe dann also das Handy gehabt, und als es aus war, fielen mir ein paar Zettel entgegen. Alles Anmeldungsformulare! Das konnte ich nicht glauben! Sie wollte sich tatsächlich eine neue Mannschaft suchen, und das als Team-Leiterin!“
„Das ist unfair!“ nörgelte Ted. „Hinterhältig und egoistisch!“
„Halt den Mund!“, schimpfte Joseph Baker. „Konzentrier dich bitte einmal auf die Arbeit! Gut, Mary, rede weiter.“
„Also habe ich sie am Ende zur Rede gestellt, vor zirka drei Wochen war das. Danach haben wir nicht mehr miteinander geredet. Es tut mir so Leid!“ Mit tränenden Augen zog sie Zettel und Stift aus der Tasche und schrieb ihre Adresse auf.
„Oh, ein Linkshänder“, bemerkte Ted. „Ich dachte schon langsam ich wäre der Einzige!“
Mit einem Mal sprang Joseph auf. „Links! Das ist es!“ Er stürzte aus dem Raum und ließ Mary und Ted allein.
Am Abend lag Jon auf seinem Bett und überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren, und er hatte einen großen Fehler gemacht. Er hatte etwas angefasst. Zwar hatte er Sarah nicht berührt. Mögliche Fingerabdrücke an Türen hatte er entfernt, aber dieser Mr. Baker wusste jetzt, dass er Linkshänder war! Und es war nur logisch, dass Sarah ihrem Mörder gegenübergestanden hatte als er ihr den Schlag versetzte. Im Team gab es nur zwei Linkshänder. Unter Lehrern oder anderen Schülern hatte Sarah keine Feinde, aber wahrscheinlich hatte Shila das wieder behauptet. Sie erfand immer Märchen, um Eindruck zu schinden. Bestimmt hatte sie wieder die Story mit ihrem angeblichen Freund erzählt, von ihrem Liebeskummer, und was es noch alles gab. Dabei war Brad gar nicht an dem Mädchen interessiert. Sie war für ihn eine Art Zeitvertreib, das hatte er ihm erst vor drei Tagen erzählt. Unwillkürlich musste er seufzen. Shila hatte natürlich auch von Sarahs Absage gehört. Auch er war jetzt verdächtigt worden. Würde sich der Kommissar nur ein bisschen anstrengen, hätte er ihn. Obwohl, beweisen konnte er nichts. Der Schlagstock hatte als Brennholz gedient, und das Messer schlummerte friedlich auf dem Grund eines kleinen Baches. Das würde niemand wieder finden. Trotzdem, wie sollte er jemand anderen verdächtigen? Mary Green, zu feige, um jemanden umzubringen. Jenny Lorence, die letzte Möglichkeit, eine gute Freundin. Es gab keine Lösung. Außenstehende würden doch niemanden einfach umbringen!
Jons Gedanken blieben am Kommissar haften. Ein zweites Mal setzte die Taubheit ein, und er überlegte: Musste er um seinen Ruf zu wahren, wieder weiter gehen als einfach den Verdacht auf andere zu lenken? Das letzte Mal musste er morden, und diesmal würde es nicht anders sein.
Joseph Baker schrieb drei Namen auf ein Blatt Papier: Mary Green, Jenny Lorence, Jon Cooper.
Mary strich er. „Sie ist so labil, sie hätte gestanden, wenn sie etwas getan hätte.“
Auch Jenny wurde gestrichen. Sie war eine gute Freundin und hatte kein Motiv.
Jon blieb. Er hatte wohl mit ihr gestritten. Sarahs beste Freundin und Brad, ein Kumpel von Jon, hatten gemeint, sein Interesse an ihr sei offensichtlich gewesen.
„Liebe als Tatmotiv? Sonst gibt es so was nur in schlechten Romanen“, dachte er. Ted kam ins Haus gestürmt.
„Wie bist du rein gekommen?“ wollte der Ermittler wissen.
„Durch die Tür, die eine gewisse andere Person in diesem Raum hatte offen stehen lassen. Was ist los? Einfach abzuhauen, das ist sonst mein Part!“
„Ich weiß wer’s war.“
„Hä?! Sag, wer?“
„Jon!“
„Jon wer?“
„Cooper, der Kerl, der von dieser McGawn als verdächtig angekreidet wurde.“
„Aber wie? Ohne Tatwaffe hast du nichts!“
„Aussagen gehören zum Tatbestand. Ich bin alles noch einmal durchgegangen, habe wichtige Leute noch mal befragt. Erstmal die Tatzeit: Gegen 20:50 Uhr war keiner mehr in der Halle. Wenn wir von einer Auseinandersetzung und der nötigen Zeit von Tat und Verbluten ausgehen, kommt 22 Uhr wie angenommen als Tatzeit in Frage. Der Hausmeister hat mir außerdem erzählt, er hätte Jon seine Schlüssel geliehen. Und der Junge ist nicht ohne. Er hätte das Zeug dazu, einen Schlüssel verschwinden zu lassen, und ihn an seinen rechtmäßigen Platz zurückzuschummeln.“
„Bravo, das war’s dann aber!“
„Wir brauchen ein Geständnis!“
„Aha!“
Mit überlegenem Gesichtsausdruck verschränkte Ted die Arme.
„Tolle Aussagen! Die helfen! Gut, während du überlegst, wie du deinen Killer findest, habe ich noch zwei Fragen: 1. Was hast du als Motiv anzubieten; und 2. Warum haben sie die Schule nicht geschlossen? Ich meine, da wird jemand erstochen, ein Mädchen erleidet einen Nervenzusammenbruch . . .“
„Den du verbockt hast!“
„Ja, ja, meinetwegen auch das!“
Aus den verschränkten Armen war wildes Händegefuchtel geworden.
„Erklär mir das.“
„Der Schulleiter ist bei einer Partnerschule in Spanien, der Vertreter ist krank, also ist keiner da, um die Schule zu schließen. Andere Lehrer faseln dauernd von strikten Schulregeln!“
„Wie krank!“
„Nicht die sind krank, sondern der Täter!“„Wieso?“
„Krank vor Liebe!“
Theatralisch legte Joseph Baker seine Hand aufs Herz und schaute verträumt.
„Ich verbessere mich. Das ist nicht krank, sondern kitschig.“
„Aber es passiert immer öfter! Jetzt lass uns aber los, ich will mir das Geständnis abholen!“
Die Kommissare fuhren zu dem Haus, in dem Jon wohnte. Von seinen Freunden hatten sie erfahren, dass seine Eltern zu irgendeiner Konferenz nach Mailand gefahren waren. Ted betrachtete interessiert seine Uhr und meinte dann:
„Ich hoffe, der Junge ist um 22:00 Uhr überhaupt zu Hause.“
Bei der Ankunft wurden sie jedoch enttäuscht. Nirgendwo brannte Licht.
„Ob er schon schläft?“
„Garantiert nicht!“
Joseph stieg aus dem Auto.
„Wir gehen rein!“
Ted folgte ihm und wollte den Klingelknopf drücken, aber sein Freund hielt ihn davon ab.
„Was ist los?“
„Wenn du jetzt klingelst, dann weiß er, dass wir da sind.“
Also gingen sie ums Haus herum.
„Wie ich mir dachte, eine Hintertür.“
„Super Joseph, und jetzt? Wie willst du da reinkommen?“
Mit einem Augenzwinkern zog der Angesprochene einen Dietrich aus der Tasche.
„Der beste Freund des Ermittlers!“
„Ich benutze lieber meine Pistole!“
Ted nahm das Gerät und schloss die Tür auf. Die beiden Männer schlichen ins Haus. Da es dunkel war, konnten sie kaum etwas sehen. Langsam tasteten sie sich vorwärts.
„Wo soll dein Jon jetzt sein?“
„Keine Ahnung . . .“
„Toll!“
Plötzlich ging ein helles Deckenlicht an. Geblendet von dem plötzlichen Lichteinfall waren die Polizisten fast blind.“
„Schön, dass Sie gekommen sind“, meinte Jon. „Ich habe schon auf Sie gewartet. Wissen Sie Mr. Baker, ich wusste, dass Sie kommen. Ich habe einen Fehler gemacht.“
Das Klicken einer Pistole war zu hören.
„Jon, was wollen Sie? Wenn Sie gestehen, wäre es für Sie besser!“
„Was sollte ich denn gestehen?“
„Den Mord an Sarah!“
Josephs Augen hatten sich an das Licht gewöhnt, nur Ted torkelte noch etwas unsicher und ziellos herum. Jon stand auf einer Treppe und hielt tatsächlich eine Pistole in der Hand.
„Wie gesagt, kleine Waffen . . .“
„Wie hast du sie getötet?“
„Plötzlich so persönlich?“ Der junge Mann lächelte mordlustig. „Wir siezen keine Mörder!“ rief Ted und taumelte — immer noch unsicheren Schrittes — zu seinem Kollegen, um sich an dessen Schulter festzuhalten.
„Da Sie sowieso gleich sterben werden, meine Herren, kann ich Ihnen auch erzählen, warum und wie ich die liebe kleine Sarah umgebracht habe. Es war also vor einigen Wochen. Es sollte ein kleines Fest stattfinden. Jedes Mädchen hätte meine Einladung gern angenommen, nur sie nicht . . . !“
Er verzog das Gesicht, als ob er gerade eine schmerzhafte Erfahrung machen würde.
„Ja, Sarah hat abgelehnt, und dafür sollte sie büßen. Eigentlich wollte ich sie nur einschüchtern mit dem Schlagstock, aber dann . . .“#„Hat sie, hat sie dich ausgelacht?“ fragte Ted niedergeschlagen. Die anderen sahen ihn an.
„Hä?“
„So ging es mir auch immer!“
Joseph seufzte.
„Rede weiter, Jon.“
„Sie hatte Angst! Aber nicht genug! Plötzlich war ich leer . . . Ich habe nichts mehr gespürt. Also habe ich zugeschlagen, und dann lag sie da. Aber trotzdem war da nichts. Deshalb habe ich das Taschenmesser genommen und, na ja, den Schnitt haben Sie gesehen. Erst dachte ich, es würde mir Leid tun. So war es nicht, ich war glücklich! Am nächsten Morgen haben Sie mich gleich verhört und ich habe dieses Beil in die Hand genommen.“
Josephs Freund blickte freundliche.
„Ich bin auch Linkshänder!“
„Ja, ich bin Linkshänder, und jetzt sind Sie hier und ich muss Sie beseitigen! Mein guter Ruf, Sie verstehen!“
„Also hast du sie wegen deines Rufes umgebracht? Das glaube ich nicht! Du mochtest sie, Jon, du mochtest sie sehr!“
„Was?“
„Das hat mir Brad erzählt.“
Für einen Moment schien Jon Reue zu zeigen. Er ließ die Pistole sinken und sah gedankenverloren in den Raum. Diesen Moment nutzte Joseph.
„Fang Ted!“ rief er und warf ihm ein Diktiergerät zu. Fast zeitgleich stürzte er zur Treppe und riss Jon herunter. Nach einem kurzen Gerangel versetzte Joseph seinem Gegner einen Schlag mit der eigenen Pistole. Jon war bewusstlos. Dann kam der zweite Kommissar zurück in den Raum.
„Du bist genial, Jo. Ich war gerade draußen, die Verstärkung kommt gleich!“
Der Fall war also gelöst. Später gestand Jon Cooper noch einmal. Das Gericht wies ihn in eine Psychiatrie ein. Das ein guter Ruf Tatmotiv war, durfte einfach nicht sein!
Ted und Joseph saßen am nächsten Morgen zusammen beim Frühstück.
„So weit kann also der Ruhm führen“, bemerkte Ted und biss in sein Brötchen. Dann kam Mariah dazu.
„Jungs, der Chef will mit euch reden!“
„Geht es um eine Beförderung, Gehaltserhöhung oder Extrabelohnung?“
„Nein, er will euch wegen eines neuen Falls . . .“
Die Männer sprangen auf.
„Was ist?“ fragte sie.
„Wir nehmen frei!“ lachte Ted und klatschte sich mit Joseph ab.
„Wir haben genug durchgemacht in den letzten Tagen!“ meinte er, und die beiden verließen stolz den Raum.