Alles wird gut- Wie unsere Kreativität uns vor dem Wahnsinn schützt
„The basis of optimism is sheer terror“- Oscar Wilde

Jeder von uns kennt Situationen, in denen wir sprichwörtlich am Ende sind. Seien es nun die Vorbereitungen auf wichtige Prüfungen, Streit, Liebeskummer, der Verlust eines geliebten Menschen oder andere Augenblicke, in denen uns unsere Hilflosigkeit bewusst wird; Kraft und Hoffnung sind erschütterlich wie alles andere. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ mag einen wahren Kern haben, doch ein „zuletzt“ ist keineswegs ein Garant dafür, dass dieser Vorgang nicht doch schneller als erwartet einsetzt. Sofortige Selbstaufgabe ist das denkbar schlechteste Mittel, zu dem man in Momenten der Mutlosigkeit greifen kann. Der menschliche Verstand mit all seiner Kreativität muss helfen, einen Antrieb zu schaffen, um weiterzumachen. Und hier kommt der Optimismus ins Spiel.
Den Ursprung einer Sache in der „nackte[n] Angst“ zu suchen, ist ein oft gewählter und tatsächlich naheliegender Ansatz. Wer einmal wirklich Angst gehabt hat, weiß, wie schnell man die Gewalt über Verstand und Körper verlieren kann. Nicht nur, dass die Knie einem plötzlich weich werden, man keine klaren Gedanken mehr fassen kann und das Herz einem bis zum Hals schlägt; auch Übersprungshandlungen sind nicht selten und haben schon bei vielen Menschen zu Verletzungen geführt oder sie gerettet. Ein Sprung aus dem Fenster bei einem Feuer beispielsweise kann beides auf einmal nach sich ziehen. Angst verleiht unserem Körper Energieschübe, die man normalerweise nicht für möglich halten würde. Wie sonst sollte sich erklären lassen, dass der eine oder andere mit einem Mal schneller laufen konnte als je zuvor und hohe Zäune wie nichts übersprungen hat, sobald die Nachbarshunde hinter ihm her waren?
Rein biologisch gesehen kann man vermuten, dass dieser Prozess der Angst mit den darauffolgenden Reaktionen aus der Urzeit stammt, in der eine gewisse Fitness überlebenswichtig war und der Körper schneller reagieren musste, als der Kopf. Beispielweise, wenn eine Beutejagd nicht ganz problemlos ablief. Allein beim Fangenspielen heute wird einem bewusst, wie schnell sich der Spieß umdrehen kann. Und in der Urzeit gab es kein „Klippo“ oder „Tick-Stop“, das dazu geführt hätte, dass die gereizten Säbelzahntiger kehrtmachen. Es ist also nur logisch, dass schon unsere frühesten Vorfahren der Angst Auge in Auge gegenüberstanden. Und gemeint sind hierbei keine modernen Ängste wie die wohlbekannte Panik vor dem Zahnarztbesuch, die ein Luxusproblem darstellt und von den früheren Erdbewohnern sicher gern gegen die Säbelzahntiger eingetauscht worden wäre. Nein, die Rede ist von der wahrhaften Urangst des Menschen: der Angst vor dem Tod.
Sollte etwas das Recht besitzen, als nackte Angst bezeichnet zu werden, so wäre es tatsächlich diese. Nicht zu wissen, ob man den nächsten Moment überleben wird, gehört zweifelsfrei zu dem Schlimmsten, was einem passieren kann. Interviews mit überlebenden Katastrophen- und Entführungsopfern, ihre Briefe und Bücher sind einige der wenigen Quellen, in denen uns Menschen, die eine solche Situation miterleben mussten, ihre Gefühle und Gedanken mitteilen können. Dabei half ihnen meist die am Leben gebliebene Hoffnung, den Mut zu finden, um weiterzukämpfen. Dieser Gedankengang, von der Hoffnung aus auf einen guten Ausgang der jetzigen Ereignisse zu schließen, erscheint keineswegs abwegig, da er auch in Romanen ein oft gewähltes Mittel ist. So zum Beispiel in „Schneewittchen muss sterben“ von Nele Niehaus.
In einer Nebenhandlung wird ein junges Mädchen entführt und ohne Orientierung in einen Raum gesperrt. Es wird beschrieben, wie Amelie, so der Name des Mädchens, versucht, die Zeit verstreichen zu lassen, zum Beispiel durch Schlafen, das Aufsagen von Gedichten, Singen oder Sport. Unterbrochen werden diese recht gefassten Handlungen von Momenten „tiefe[r] Verzweiflung“1 und anschließender „melancholische[r] Gleichgültigkeit“2. Einer Sache ist Amelie sich jedoch sicher: „Irgendwann würde jemand kommen und sie hier rausholen. Ganz sicher. Sie glaubte fest daran. Es fühlte sich einfach nicht so an, als ob der liebe Gott sie jetzt, noch vor ihrem achtzehnten Geburtstag, sterben lassen würde.“3 Tatsächlich wird sie gerettet.
Das Mädchen hat ein für den Menschen einzigartiges Talent genutzt, um inmitten der schlechten Bedingungen seines Gefängnisses nicht verrückt zu werden. Eben die Gabe des Optimismus, der keinem anderen Lebewesen gegeben ist. Der Mensch neigt dazu, sich in unangenehmen Situationen gut zuzureden und an die eigenen Trugbilder zu glauben, was eine daraus entstehende, positive Denkweise nach sich zieht. Diese kann Optimismus genannt werden. Er hält die Hoffnung am Leben, was ihn für uns unverzichtbar macht.
Warum ich die Hoffnung als dritten Faktor hinzuziehe, hat einen einfachen Grund: Sie hängt für mich eng mit dem Optimismus zusammen. Sie nehmen nicht nur beide Bezug auf die Zukunft, sondern drücken zudem auch etwas Positives aus. Der Optimismus erwartet das gute Ende einer Situation, dessen wahren Ausgang er nicht kennt, die Hoffnung beschreibt die Wunschvorstellungen der Person, in der sie selbst enthalten ist. Man kann davon ausgehen, dass niemand sich etwas Schlechtes für sich selbst wünschen würde und daher die Hoffnung vollkommen positiv behaftet ist.
Was die beiden Elemente jedoch unterscheidet, ist die Art ihrer Existenz. Während der Optimismus in vielen Fällen als sonnige Gemütseinstellung eines Menschen beschrieben wird und deshalb vielleicht sogar als Charaktereigenschaft gehandelt werden kann, ist die Hoffnung in der Gefühlsebene anzusiedeln. Sie beschreibt den bereits genannten Wunsch, eine innere Sehnsucht, die nicht im Menschen selbst steckt, sondern aus seinen Vorstellungen und Ideen resultiert. Der Charakter eines Menschen kann die Ausmaße des Hoffens beeinflussen, da die Bereitschaft, es zu tun, mit von den Charakterzügen abhängt. Da Optimisten positiv in die Zukunft blicken, trauen sie sich womöglich eher, gleichartige Zukunftsvisionen und –wünsche zu formulieren. Dies ist bei Pessimisten eher unwahrscheinlich. Um dies mit den Worten des Mannes zu untermauern, der auch das Eingangszitat geliefert hat: „Pessimist: One who, when he has the choice of two evils, chooses both.“4 Jemand, der generell negativ eingestellt ist, beschäftigt sich mehr mit der Gegenwart und allem, was sie an Übeln mit sich bringt, als mit einer Zukunft, die möglicherweise ganz anders kommt, als man sie eigentlich wollte.
Die starke Verbindung der Faktoren Optimismus und Hoffnung, lässt eine neue These über die Angst zu. Möglicherweise ist sie nicht nur „the basis of optimism“, sondern auch „the basis of hope“.
Der Begriff der Hoffnung führt uns zu einem neuen Thema, das bisher noch nicht zur Sprache gekommen ist: der Religion, auf unsere Kultur bezogen das Christentum.
Denn es gibt noch eine andere Art der Angst vor dem Tod als die bereits erklärte. Sie entsteht nicht zwangsläufig in Momenten, in denen der Tod einem besonders nahe zu sein scheint. Gelegentlich passiert es auch, häufig bei Kindern, die gerade erste Erfahrungen mit dem schwierigen Thema machen mussten, dass man in Gedanken unverhofft an den Punkt kommt, an dem man sich fragt, was eigentlich passiert, sobald man stirbt. Die Ungewissheit, wie es wohl sein wird und ob man überhaupt noch etwas davon merkt, ist verständlicherweise etwas, was man nicht ohne jegliche Gefühlsregung hinnimmt. Die Kirche, die in diesem Punkt eine große Rolle spielt, hatte schon immer eigene Ideen, wie man diese Angst angreifen konnte.
Der Glaube war früher, zum Beispiel im Mittelalter, weiter verbreitet als er heute noch ist und wurde von fast jedem praktiziert. Die Bibel und vor allem die zehn Gebote schufen Grundregeln des Zusammenlebens, die heute sowohl bei Gläubigen, als auch bei nicht-religiösen Menschen gelten. Doch das Christentum befasste sich nicht nur mit dem jetzigen Leben, sondern auch mit dem zukünftigen ungewissen. Die Vorstellung, nach dem Ableben vor Gottes Gericht gestellt zu werden und sich für das vergangene Dasein verantworten zu müssen, gab es dort genau wie in anderen Kulturen, zum Beispiel bei den alten Ägyptern. Ein Beweis dafür, dass das Leben nach dem Tod eine kulturübergreifende Theorie ist. Auch sie ist im Grunde nichts anderes als eine Lehre, die uns erklären will, dass wir den Tod nicht fürchten müssen.
Um dies zu erreichen kreierte man also eine Idee, die nicht nur jedem Menschen das eigene Handeln bewusst machen, sondern ihm auch den Abschied von der Welt erleichtern sollte. Denn die Hoffnung, nach dem Ableben in irgendeiner Form weiterzuexistieren, linderte die Panik vor dem großen Nichts. Dies ist auch in der heutigen Zeit noch so. Die optimistische Annahme, dass es nach dem Tod nicht einfach vorbei sein kann, gipfelt also in einer neuen Weltanschauung. Ein mögliches Leben außerhalb der Welt, wie wir sie kennen, wird zum Bezwinger der Todesangst.
„The basis of optimism is sheer terror“ ist also in einigen Punkten durchaus plausibel. Das Zitat lässt sich nicht nur auf Extremsituationen beziehen, sondern auch auf den Glauben, und sollte man weitere Erklärungen verlangen, kann man einfach die naheliegendste wählen: Tagtäglich wird die Welt zum Schauplatz großer und kleiner Ereignisse, die die Menschen erleben, ohne sich dauerhaft zu sorgen oder bei jedem Schritt auf jedes noch so kleine Detail zu achten. Doch wie kommt es dazu? Geht man im Kopf alle Möglichkeiten durch, wie man zu Schaden kommen kann, würde man doch womöglich nicht mehr aufhören zu zählen.
Wir gehen einfach davon aus, dass schon alles in Ordnung sein wird. Dass der Tod uns auf Schritt und Tritt verfolgen könnte, kommt uns dabei gar nicht in den Sinn. Woher dieser Optimismus? Es gibt doch so viel Übel in der Welt! Eine genaue Antwort darauf kann man nicht geben. Vielleicht ist es ein optimistischer, vorbestimmter Grundkern des Menschen, vielleicht halten einen Einfältigkeit und Naivität von diesen Gedanken ab oder es ist die reine Bequemlichkeit, die uns zu sagen versucht: „Warum willst du dir jetzt Sorgen machen? Du hast noch genug Zeit dazu.“. Doch genauso wahrscheinlich ist auch der Ansatz der Angst als Auslöser. Denn die Vorstellung, zu was die Menschheit sich entwickelte, wenn jeder sich auf die Schrecken der Welt konzentrieren würde, ist auf keinen Fall eine erstrebenswerte. Genauso verlockend, wie Teile der Welt sich uns darbieten, genauso gefährlich können sie auch sein. Wir wachsen mit allen riskanten Begleitumständen auf und lernen sie einzuschätzen. Möglicherweise ist auch das eine Begründung dafür, warum wir das Auge vor dem täglichen Aufkommen an Risiken verschließen können.
Fest steht zumindest, dass man Wildes Aussage über die Angst generell bestätigen kann. Optimismus kann aus der nackten Angst entstehen. Eine Welt der Angst wird durch die Positivität in das verwandelt, was wir ständig miterleben. Und auch, wenn das nicht immer das ist, was wir uns wünschen: in ständiger Furcht leben zu müssen wäre um so schlimmer.
Ich versichere, dass ich die Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen benutzt habe und alle Entlehnungen als solche gekennzeichnet habe
3 Vgl. ebenda